Ein einzigartiges Land
Äthiopien ist ein Land, das unter die Haut geht. Atemberaubend schöne Landschaften mit gewaltigen Gebirgen, interessante Kultur und Geschichte und nicht zuletzt die berühmte äthiopische Gastfreundschaft lassen jede Reise unvergesslich werden. Wir dürfen also als Mission in einem der schönsten Länder dieser Welt arbeiten, das ist ein Vorrecht. Gleichzeitig gehört Äthiopien aber auch zu den ärmsten Ländern der Erde, was für uns immer eine Herausforderung darstellt. Nun gibt es schöne Landschaften auf der ganzen Welt, freundliche Menschen und fremdartige Kulturen auch – was macht Äthiopien dabei so einzigartig?
Kurzinfos
33,9% sunnitisch
18,6% protestantisch
2,6% animistisch
0,7% katholisch
0,6% sonstige
Die Antwort ist sehr leicht, es ist die unglaubliche Vielfalt in diesem Land. Es gibt nicht „den Äthiopier“, sondern hier leben mehr als 80 verschiedene Völker und Volksgruppen mit völlig unterschiedlichen Kulturen und auch Sprachen. Im Norden Äthiopiens leben die Amhara und die Tigre; diese beiden Völker machen einen großen Teil der äthiopischen Bevölkerung aus. Sie sind eng miteinander und mit dem eritreischen Volk verwandt. Sie gehören größtenteils zu dem orthodoxen Christentum an. Die Amhara bildeten über lange Zeit die soziale und politische Elite des Landes. Im Osten Äthiopiens leben die muslimischen Afar, Adal und Kereyu, und noch weiter gen Osten die Somalis. Einige dieser Völker ziehen noch heute als Nomaden durch die Steppen und Salzwüsten Ostäthiopiens. Die zahlenmäßig größte Volksgruppe bilden die Oromo. Dieses stolze Volk besiedelt ein großes Gebiet, das sich von der Grenze zum Sudan im Westen bis zu den Nomaden im Osten und weiter bis nach Kenia im Süden zieht. Allein die Untergruppen der Oromo bilden eine faszinierende Vielfalt an Kulturen. Im Südwesten Äthiopiens leben Völker, die über Jahrhunderte von der Zivilisation der nordäthiopischen Kulturen unberührt blieben. Die viehzüchtenden Stämme, die in diesem Gebiet leben, gehen zum größten Teil den alten Naturreligionen nach.
Wir haben es also mit über 80 Sprachen zu tun, nicht mit Dialekten – die kommen noch hinzu. Es gibt also kein „Äthiopisch“, wie es „Deutsch“ oder „Englisch“ gibt. Die Amtssprache ist Amharisch, doch in einigen Teilen des Landes wird sie nur ungern genutzt. Es ist leicht vorzustellen, was allein diese Tatsache für Mission bedeutet. Mission heißt, den Menschen das Evangelium zu bringen, die gute Botschaft von Jesus Christus. Das setzt Sprache voraus, und es ist von großer Bedeutung, die Menschen in ihrer Muttersprache zu erreichen. Unser Evangelistenprojekt ist unsere Antwort auf diese besondere Herausforderung in unserem Missionsland. Wir setzen Evangelisten ein, die aus der Volksgruppe kommen, in der wir Gemeinde gründen und aufbauen wollen. Damit sind sie eins mit der Kultur, beherrschen die Sprache und haben ganz anderen Zugang als Menschen, die von außen kommen. Das Projekt ermöglicht es uns, als Mission unter völlig verschiedenen Volksstämmen zu arbeiten: im Westen und Osten unter den Oromo, im Südwesten unter den Gurage, im Norden unter den Amhara und nicht zuletzt in den Grenzgebieten in einigen Stämmen, die noch nicht wirklich mit dem Evangelium erreicht sind.
Auch die Geschichte Äthiopiens ist interessant. Äthiopien ist das einzige Land Afrikas, das sich gegen die europäischen Kolonialmächte behaupten konnte. Kaiser Haile Selassie gelang es, sein Reich zu seinem starken, unabhängigen und modernen Staat aufzurichten. In seiner Zeit wurden die ersten evangelikalen Gemeinden durch vorwiegend amerikanische Missionare gegründet. Leider sollten dieser Aufschwung und diese Freiheit nicht von Dauer sein. In den 1970gern schaffte es eine kommunistische Bewegung mit Unterstützung der UDSSR den Kaiser zu stürzen und eine sozialistische Militärregierung aufzurichten. Unter der Herrschaft von Mengistu Haile-Mariam wurde das Volk unterdrückt, die Wirtschaft brach in großen Teilen zusammen und eine schreckliche Christenverfolgung begann, die den Samen der noch jungen evangelikalen Gemeinden im Keim zu ersticken drohte. Nach einem blutigen Bürgerkrieg und einer verheerenden Hungersnot brach das Regime in sich zusammen. Auch in dieser Zeit brannte sich Äthiopien als Land des Hungers und der Armut in das Gedächtnis der westlichen Welt ein. Anfang der 90ger Jahre begann sich die Lage in Äthiopien wieder zu stabilisieren. Die neue Regierung führte die Religionsfreiheit ein, was uns erlaubte, in Äthiopien mit Mission zu beginnen. Damals trafen sich Missionare aus verschiedenen Ländern in Addis Abeba, man tauschte sich aus. Unser Missionsgründer Shimeles Retta nahm an mehreren Gesprächen teil, die sich vor allem um die Frage drehte, wo man mit Mission nun beginnen könne. Viele Ideen standen im Raum, nur Ostäthiopien kam nicht darin vor. Die Gegend war zu risikoreich, es gab ethnische Unruhen und der Islam war teilweise recht aggressiv, sodass niemand dort arbeiten wollte. Damit stand für Shimeles fest: der Osten war für uns ideal, niemand wollte hin - genau hier würden wir als Mission starten.
Trotz der Bemühungen der Regierung und vieler Hilfswerke weltweit bleibt Äthiopien bis heute eines der ärmsten Länder der Welt. Der überwiegende Teil der Bevölkerung lebt von der Landwirtschaft. Bis vor 50 Jahren konnte man alle 70 Jahre mit einer großen Dürre rechnen. Inzwischen wird der Osten Afrikas alle sieben Jahre von einer Dürreperiode heimgesucht. Was damals noch für weltweites Aufsehen gesorgt hatte, wird heute schon als Normalität hingenommen, „wieder einmal eine Hungersnot in Ostafrika“. Oft werden wir gefragt, ob es den Afrikanern nicht besser ginge, wenn sie fleißiger arbeiten würden. Abgesehen davon, dass diese Rechnung auf vielen Ebenen viel zu kurz gedacht ist, lässt sie sich auf keinen Fall auf Äthiopien anwenden. Die Berghänge des äthiopischen Hochlandes werden schon seit Jahrhunderten zum Teil in mühsamer Handarbeit beackert. Die Bauern bauen ohne moderne Hilfsmittel große Dämme, um künstliche Seen anzulegen, die zur Bewässerung dienen sollen. Kein armer, unter Hunger leidender Äthiopier ist sich für eine Mühe schade, wenn es um das Überleben der eigenen Familie geht. Trotzdem ziehen ihnen regelmäßig Umstände einen Strich durch die Rechnung, auf die sie keinen Einfluss haben. Verändertes Klima, politische Unruhen, schwankende Lebensmittelpreise, Inflation und vieles mehr sorgen dafür, dass die Menschen sich aus eigener Kraft nicht aus ihrer Situation retten können.
Die Not in Äthiopien können wir auch als Mission nicht übersehen. Wie schwierig ist es zum Beispiel, eine Kinderstunde zu halten und zu erkennen, dass man selbst wohl die Einzige im Raum ist, die richtig gefrühstückt hat? Wie können wir von der Liebe Jesus Zeugnis geben, wenn wir sie nicht auch praktisch weitergeben? So war es für uns folgerichtig, dass verschiedene Hilfsprojekte in der Mission entstanden, ein Patenkinderprojekt, die Bedürftigenhilfe sowie Projekte zur Unterstützung verarmter Gemeinden und Nothilfeprogramme. Dennoch bleibt die herzergreifende Not vieler Menschen in diesem Land immer eine besondere Herausforderung. Wissend, dass man nicht allen helfen kann, in dem Bewusstsein und der Verantwortung zu entscheiden, wem man hilft und dadurch auch gleichzeitig wem nicht – das braucht viel Weisheit, aber auch Kraft zum Durchhalten.
Und doch, da sind sie auf den Straßen, die Menschen, die sichtlich in größter Armut leben, und sie lächeln! Verglichen mit dem Bild vieler Einkaufsstraßen in Deutschland, in der Menschen mit vollen Einkaufstüten und doch gehetzten, unzufriedenen Gesichtern herumlaufen, könnte der Kontrast nicht größer sein. Das lässt die Frage hochkommen, was uns viele Menschen in Äthiopien voraushaben. Ist es die enge Gemeinschaft untereinander, die starke Familienstruktur und die Kultur der Treue in Freundschaften? Die Frage ist schwer zu beantworten, doch eins wird jedem Äthiopienreisenden klar: Man kam, um zu geben, doch man hat so vieles bekommen, ganz unerwartet.